Knappheit weckt Begehrlichkeiten. Dieses seit Urzeiten gültige Gesetz zeigte sich auch beim Andrang auf OHNE TITEL. STRUKTUR IV (GEMEINSCHAFT HALT), das unmittelbar nach der Begrüßung auf der Probebühne C stattfinden sollte. Die Plätze waren begrenzt, rein kam nur, wer rechtzeitig eine der kostenlosen Karten ergattern konnte. Trotzdem hörte man unter den Kartenträger:innen einigen Unmut, weil der Weg zur Aufführung etwas beschwerlicher ausfällt: Die ersten Geheimtüren und Backstage-Räumlichkeiten werden noch mit aufgeregter Neugierde quittiert, doch nach dem dritten Satz Treppenstufen rauf und runter, klaustrophobisch wirksamen Betongängen entlang macht sich schon bald ein latenter Unmut breit.

Belohnt wird der Gang durch das labyrinthisch Unterholz der Schauspiel-Untiefen schließlich mit besagter Aufführung der Schüler:innen der Klasse 9 der Johann-Hinrich-Wichern-Schule mit dem Künstlerteam NORD, die mit nur wenigen Mitteln, namentlich Fichte, Leinwand, Kabelbinder und Seidenpapier, sich an einer Art learning-by-doing-Gemeinschaft mit architektonischen Mitteln versuchen. Soll alles gleich sein oder ist es gerade gut, dass nicht alles das Gleiche ist? Welche Musik darf gespielt werden? Fragen wie diese werden erörtert, derweil sich das Gemeinschaftsbauwerk aus variablen Elementen im spärlichen Lichtkegel der Probebühne zusammensetzt. Das Publikum lauscht und beobachtet andächtig.
Zurück in jenen Räumen, die dem Publikum für gewöhnlich eher offen stehen, geht das Programm direkt weiter: Die nächste Performance auf der großen Bühne geht gleich los, davor kann man aber noch einen Blick auf die Installation zum Projekt VOM ERSCHEINEN UND VERSCHWINDEN werfen, das die Schüler:innen der Klasse 9a der Walter-Kolb-Schule in den vergangenen Monaten mit dem Künstlerinnenteam WEST erarbeitet haben. Viele wundersame Dinge sind hier versammelt, deren Geheimnis erst beim genauen Hinschauen sich entschlüsselt. Die Schüler:innen der Jahrgangsstufe 10 des Gymnasium Riedberg machten sich gemeinsam mit dem Künstlerteam NORD auf die Suche nach diesem PUNKT, AN DEM MAN SICH TRIFFT. Dabei geht es nicht nur um altruistische Motive: »Wir bauen, weil uns langweilig ist. Wir bauen, weil wir zu viel haben. Wir bauen, um das Loch in unserem Herzen zu schließen«, heißt es bei den Schüler:innen, die irgendwann die E-Gitarre auspacken, um die eigene Reise musikalisch zu begleiten. Schließlich aber auch: »Wir bauen eine Gesellschaft. Wir bauen um des Bauens willen! Wir bauen eine Welt.«
Auf der Hauptbühne im Schauspielhaus präsentierten im Laufe dieses Abends verschiedene Gruppen ihre Arbeiten erstmalig vor solch großem Publikum. Denn neben den Familien, Eltern, Freund:innen, Künstler:innen und Mitarbeiter:innen von ALL OUR FUTURES stand dieses letzte Tryout nicht nur allen Interessierten offen. Es waren auch zahlreiche Teilnehmer:innen der Fachtagung »All Our Futures? Allianzen im Dreieck Kulturinstitution – Schule – Kunst: Haltungen hinter den Handlungen« vor Ort – viele von ihnen gespannt darauf, wie die tagsüber besprochenen Inhalte in der Praxisumsetzung ausschauen würden.

Das Künstler:innenteam OST präsentierte hierzu ein regelrechtes Best-of der vergangenen Monate: Der Kinderschutzbund führte das Publikum mit ausgedachten und wahren Geschichten ins LAND OF NO RETURN, die Schule am Ried zeigte BREAKING NEWS unter globalen Vorzeichen. Lässt sich so eine Gemeinschaft finden? »Vielleicht bin ich es ja, die oder der diese Welt zusammenhalten kann. Denn meine Wurzeln reichen in viele Länder. Jeder von uns spricht und versteht mindestens drei Sprachen: Moldawisch, Portugiesisch, Türkisch, Italienisch, Englisch, Deutsch, Serbisch, Dari, Tigrinisch. Wie klingen diese Sprachen zusammen? Vielleicht wie der Anfang einer Symphonie?«

Musikalisch ging es jedenfalls auch bei der Louise-von-Rothschild-Schule zu, deren Gruppe gemeinsam mit einigen anderen Schüler:innen aus dem Team OST eine Performance auf die Bühne brachte, die zu hypnotischen, von Alexandar Hadjiev mit den Jugendlichen erarbeiteten Klängen und mit Gesangspassagen von Hind nur mittels dreier Tische, zwölf Stühle, acht Schlägen und sechzehn Personen funktionierte. Das, stellte später ein Zuschauer beeindruckt fest, ist (bzw. war) Kunst.

Manches muss man verpassen

Herausragender Beliebtheit erfreute sich, aus naheliegenden Gründen, auch die Performance ALL OUR BELEGTE BROTE. Wenig bringt so schnell zusammen wie der Appetit, respektive das gemeinsame Essen. Diese Binsenweisheit füllten die Schüler:innen der Hostatoschule Höchst mit den Künstlerinnen vom Team WEST eindrucksvoll mit Leben. Der Tisch ist im Signature-Stil gedeckt, ein Zettel liegt an jedem Platzset aus, darauf die Frage: Was verbindet man selbst mit dem belegten Brot? Charmant, aber bestimmt: Den Anweisungen ist Folge zu leisten! Bitte beantworten Sie die Frage als Zahlung für Ihr belegtes Brot! Bitte reibt euch die Hände mit den Desinfektionstüchern ein! Die werden natürlich sogleich auch gereicht. Doch bevor es nun ans Belegen der ausgeteilten Brotscheiben geht, müssen alle Sitznachbar:innen jeweils die benachbarten Handgelenke miteinander verbinden – ab jetzt gibt es keine Anweisungen mehr, nur ein Ziel, nämlich dass niemand zubeißen darf, bevor nicht alle am Tisch ihr belegtes Wunschbrot bekommen haben. Austausch von Streichpasten und Käse, Brotkörben. Bitte, Danke, es funktioniert erstaunlich gut.

Am Ende konnte man leicht den Eindruck gewinnen, eine Menge verpasst zu haben. Was objektiv stimmt, denn außerhalb der Performances auf der großen Bühne im Schauspielhaus lief alles zeitgleich ab - im Foyer und in der Box, in der Panorama Bar und auf der Probebühne C. Doch es gibt auch Tröstliches: Eine Variante, in der man alles an diesem einen Abend hätte sehen können, existiert nicht einmal in der Theorie. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Aufführungen, Performances, Musikstücke, Darbietungen, Installationen und Happenings gehörte auch zu diesem letzten Tryout dazu. Da schließt sich der Kreis zu den anderen Proben und Zwischenständen, die man im Laufe der vergangenen zweieinhalb Jahre miterleben konnte. Immer wieder war es nur der Versuch, mithalten zu können, die Fäden aufzugreifen, die einem hier und da hingeworfen wurden. Manchmal hat es geklappt, manchmal nicht. Und manches wird fortgeführt werden, ohne dass man schon eine genaue Ahnung davon haben kann, wie und in welcher Form.