Was kann man aus drei Jahren AOF mitnehmen? Warum lohnt sich so ein Projekt überhaupt für eine Berufsschule? Ein Gespräch mit Bernhard Friedrich über Gefälle zwischen Bildungsgesellschaften, angelernte Belohnungssysteme und warum es manchmal schon ein Erfolg ist, eigene Ansprüche zu formulieren.

Lieber Herr Friedrich, stellen Sie sich und Ihre Perspektive auf ALL OUR FUTURES doch bitte kurz vor!

Mein Name ist Bernhard Friedrich, ich bin Schulleiter der Ludwig-Erhard-Schule, das ist eine kaufmännische berufliche Schule hier im Frankfurter Westen mit ungefähr 1400 Schülerinnen und Schülern, die zum Beispiel als Industriekaufleute oder im Dialogmarketing ausgebildet werden. Daneben unterrichten wir Fachoberschüler:innen und Berufsfachschüler:innen im Übergang zur Ausbildung. Das sind junge, manchmal auch weniger junge Menschen, die keinen oder einen schlechten Hauptschulabschluss haben und die wir in ein bis zwei Jahren auf den Beruf vorbereiten. Viele kommen selbst aus dem Frankfurter Westen, viele zudem aus bildungsfernen Familien. Wir machen sie quasi fit, damit sie ihren Fuß wieder ins Lernen bekommen. Die jüngsten an unserer Schule sind 16, die ältesten über 30 Jahre alt. Damit man mal eine Vorstellung bekommt, was für eine Altersspanne bei uns vertreten ist.


Mit genau dieser Schülergruppe waren wir an ALL OUR FUTURES beteiligt, und damit kamen natürlich gleich viele Fragen und Zweifel auf: Wie kann man eine berufliche Schule an so einem Projekt beteiligen? Kann man da überhaupt mitmachen? Und wie schafft man es, das Erarbeitete so gut als möglich von Jahr zu Jahr weiterzugeben – ohne immer wieder von Null anfangen zu müssen? Wir haben einen schnellen Umlauf. Viele Schülerinnen und Schüler sind nach einem Jahr wieder weg. Wir haben versucht, das Staffelholz so gut als möglich über die Kollleg:innen und Künstler:innen weiterzugeben. Deshalb möchte ich zunächst auch bei den Projektlehrerinnen, Frau Aline Becker und Frau Evsen Hatam, ganz herzlich für ihr Engagement danken – und dass sie trotz vieler Widerstände drangeblieben sind!

»Bei Einigen ist der Funke übergesprungen«

Gab es noch andere Besonderheiten, die sich aus dem Umfeld Berufsschule ergaben? Wie haben Sie als Schulleiter das Projekt wahrgenommen?

Natürlich war die Hauptschwierigkeit, dass wir nicht so gut planen konnten im Vorfeld. Wie organisiert man das eigentlich, dass das weitergeht nach einem Jahr – und mit welchen Schüler:innen? Wer bleibt eventuell auch im zweiten Jahr mit dabei, wenn es aus dieser Klasse in die Ausbildung geht? An unserer Schule erleben viele den Übergang von der Adoleszenz zum Erwachsenenleben, die Entwicklung der eigenen Person. Meine Idee war, die Schülerinnen und Schüler gerade in diesem Übergang in besonderer Weise auch zu unterstützen und auf diese Weise nochmals besonders intensiv begleiten zu können. Das sind ja junge Leute, die noch nicht komplett zugemacht haben, die wir noch erreichen können!

Um ehrlich zu sein, haben sich unsere Vorstellungen nicht ganz einlösen lassen. Weil es ziemlich schwierig ist, die Schüler so weit zu begeistern für das Medium und für seine Möglichkeit, dass man wirklich jede:n Einzelne:n da so lange bei der Stange halten kann. Wir arbeiten unheimlich viel mit Beziehungen und Bindungen. Das haben wir nicht zu 100% hinbekommen, wie wir uns das vielleicht vorgestellt und erhofft hatten. Dafür waren die Einheiten zu kurz, und der bereits angesprochene Wechsel nach einem Jahr kam noch hinzu. Ich weiß aber von Einzelnen, die bis zum Schluss dabei geblieben sind, bei denen der Funke übergesprungen ist.

Was würden Sie Kolleginnen und Kollegen empfehlen, die Lust haben, ein ähnliches Projekt auf die Beine zu stellen? Und was würden Sie selbst mit diesem Wissen anders angehen – oder noch stärker betonen?

Man muss, glaube ich, von Anfang an versuchen, eine starke Bindung zwischen Künstlerinnen und Künstlern und Schülerinnen und Schülern zu schaffen. Das muss man langsam aufbauen, viel Verständnis herstellen zu Beginn. Das wäre so ein Gelingensfaktor. Vielleicht müsste man das sogar noch stärker betonen, als wir es gemacht haben. Denn man muss natürlich sehen: es sind Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und Familien selbst noch nie im Theater waren. Die insofern aus bildungsfernen Schichten kommen, als dass sie mit Theater, Schauspiel, darstellender Kunst kaum bis gar keine Berührung hatten.

Hinzu kommt ein weiterer Gelingensfaktor: dass man immer versucht, so ehrlich wie möglich zu sagen, was man eigentlich für ein Konzept hat. Viele unserer Schülerinnen und Schüler sind sehr misstrauisch. Da kommen schnell Gedanken auf wie »Oh, werden wir hier vorgeführt? Was passiert hier?« Das ist wichtig, im Hinterkopf zu behalten. Und deutlich darzustellen, was man vorhat und was nicht.

Wenn ich also nochmal mitmachen könnte, mit den Erfahrungen und Erkenntnissen von heute, würde ich viel mehr vom Ende her denken: Was bringt das für euch, die Schülerinnen und Schüler, was bringt das für die Gesellschaft – wo ist der Benefit? Was bringt das für mich? Das muss man ganz deutlich schon im Vorfeld herausstellen.

»Zukünfte, im Plural – das war ein guter Titel, sehr passend für unsere Schüler:innen«

Gerade das läuft ja der künstlerischen Arbeitsgewohnheit eigentlich diametral entgegen. Denn dort geht es oft darum, sich erst einmal auf etwas einzulassen. Oder auch: Dinge gerade nicht so zweckrational zu denken.

Ja, klar! Das ist sicher für alle Beteiligten schwierig. Aus künstlerischer Sicht, solche »Zwecke« zu formulieren. Und für die Schülerinnen und Schüler, sich darauf einzulassen. Das ist auch ein intellektueller Schritt, zu sagen: »Warte erstmal ab!«

Ich kenne das aus meinem Schulalltag aus zahlreichen Situationen. Wenn wir beispielsweise mit einer Gruppe mal ins Theater gehen. Da kommen schnell Nachfragen wie: »Ja, was bringt mir das, wenn ich hier jetzt hingehe…da muss ich ja erst einmal zehn Euro bezahlen…« Das ist für viele nicht wenig Geld. Und wenn die ersten fünf Minuten dann nicht die Erwartungshaltung befriedigen, habe ich viele schon verloren. Wenn man nicht schon vorher diese positive Erfahrung gemacht hat, dass es einem hinterher auch besser geht, dass es sich lohnt, sich auf die Erfahrung erst einmal einzulassen, dann ist es schwierig, jemanden da heranzuführen. Oder, wenn es gar aus Sicht der Schüler:innen nur Nachteile bringt – ich habe Zeit und Kraft investiert, wo ist jetzt mein persönlicher Gewinn?

Sie zielen darauf ab: wie man diesen »Gewinn« im Zusammenhang eines solchen schulischen Projekts jenseits von Noten ausdrücken kann?

Genau das ist der Punkt. Was ja eigentlich traurig ist – dass man in einem lange angelernten Belohnungssystem agieren muss. Und auch Sanktionssystem! Die drei Jahre waren nicht einfach. Die Widerstände waren sogar noch größer, als ich sie mir im Vorfeld ausgemalt hatte. Aber ich bin sehr froh, dass wir gesagt haben: Wir geben nicht auf, als Ludwig-Erhard-Schule. Wir ziehen das durch.

Egal, wie gut man das konzipiert auf Projektebene: Als berufliche Schule hat man natürlich auch einen ganz anderen Bezug zu dieser, salopp gesagt, doch eher bildungsbürgerlichen Gesamtgemengelage.

Das war natürlich auch meine Angst, von vorneherein: Natürlich ist diese Bildungsgesellschaft der Ausführer dieses Projekts. Das muss man sich einfach klar machen und das auch ehrlich reflektieren. Auch die Geldgeber, die Stiftungen und das Schauspiel selbst, die haben natürlich einen ganz anderen Blick auf die Gesellschaft. Und für diese Art der Konfliktlage haben die Schülerinnen und Schüler ein sehr feines Gespür. Deshalb waren sie erst einmal sehr misstrauisch. »Wir wollen uns aber nicht vorführen lassen«, habe ich vorhin bereits erwähnt, und daran knüpft ja an: »Wir wollen nicht, dass andere uns zukucken…« Auf der Bühne zu stehen, das hat ja etwas Auslieferndes. Wenn sie dann nicht einmal mit dem Theater zuvor in Berührung gekommen sind, keine Erfahrung haben, das Ganze nicht in einen eigenen Kontext setzen können…da gab es schon Momente, an denen alle Beteiligten fast verzweifelt sind. Wenn man diese Zukünfte – ich fand den Titel übrigens sehr, sehr gut, gerade im Plural, sehr relevant für meine Schülergruppe – wenn man die als Kernelement nimmt, dann hat man zugleich eine Brücke geschlagen, die vielleicht so etwas überwinden helfen kann.
 
Gab es irgendwelche Lieblingsmomente – besondere Aufführungen, Erlebnisse bei den Aufführungen oder Tryouts, aber auch vielleicht Rückwirkungen in den Schulalltag, die Ihnen in Erinnerung bleiben?

Es gab immer mal wieder bestimmte Situationen, wo die Schüler:innen tatsächlich aus sich herausgegangen sind…wo sie wirklich auch ihre Perspektiven mit eingebracht werden. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, wie sich punktuell die Art der Fragestellung verändert hat. Wie das, was die Schülerinnen und Schüler im Projekt erarbeitet haben, dann auch im Schulalltag widerhallte. Da wurden dann plötzlich auch einmal Fragen formuliert, die durchaus fordernd sein konnten: »Wo sind denn jetzt die Ausbildungsplätze für mich? Wie sieht denn meine Zukunft in dieser Gesellschaft aus?«

Ja, es gab in jedem Fall einige Schülerinnen und Schüler, die da sehr interessiert drauf gekuckt haben. Die immer noch kucken. Vorsichtig, vom Rande aus, aber eben doch interessiert. Die sich damit auseinandergesetzt haben. Die sich da angebunden gefühlt haben. Natürlich hat sich da jetzt keine feste Theatergruppe draus formiert, die regelmäßig und professionell auf der Bühne performt. Aber der Weg von unseren Schülerinnen und Schülern zum Theater, zu einer künstlerischen Auseinandersetzung ist ein viel weiterer als für ganz viele andere. Das ist für mich schon ein großer Erfolg. Und deshalb habe auch ich das gesamte Projekt bis zum Schluss, der nun Corona-bedingt auf Film statt auf der Bühne stattfand, sehr gespannt mit verfolgt.

Vielen Dank für das Gespräch!