Zugegeben, das Schauspielhaus am Willy-Brandt-Platz wirkt von außen nicht gerade wie ein Schuhkarton, aber dass die Wege hier ein derart labyrinthisches Ausmaß erreichen, sieht man ihm wiederum auch nicht an. Immerhin bin ich nicht die einzige, die der kargen Beschilderung misstraut, sich schon im Geiste einsam irgendwelche dunklen Gänge entlangwandeln sieht und deswegen doch lieber gesammelt den Weg in die Katakomben antritt. Also warten wir brav gemeinsam an der Bühnenpforte auf die letzten Nachzügler vom Kinderschutzbund, denn heute findet die wöchentliche Probe nicht wie sonst in der Orangerie am Günthersburgpark statt, sondern auf einer echten Probebühne im Schauspielhaus, genauer gesagt: auf der Probebühne A. Denn selbstredend hat dieses riesige Haus nicht nur eine ...

In den langen fensterlosen Flure wähne ich mich einen gleich in irgendwelchen städtischen Kellergängen. Schließlich führen sie uns aber doch zum heutigen Probenort: Hinter der massiven roten Eisentür befindet sich ein ebenfalls fensterloser, doch großzügig geschnittener Raum, schwarze Wände, schwarzer Boden, ein langer Holztisch, hier und da ein Klappstuhl und natürlich die typischen kleinen Probenüberbleibsel: neonfarbene Markierungen auf dem Boden, zerknickte Textzettel, leere Kaffeetassen und ein vergessenes Probenkostümteil, die von einer intensiven Vormittagsprobe erzählen und schließlich den Charme einer solchen Arbeitsstätte ausmachen.

Linus und Aliya inspizieren alles aus nächster Nähe: »Proben wir gleich richtig? Wie die Leute am Theater auch?« Das Künstlerteam, heute Kristina und Alex, schließt die Tür: »Klar! Und wir fangen auch gleich damit an und nutzen, was wir hier haben: den Raum und unseren Körper.«
Um Körpererfahrung und Koordination soll es zunächst gehen. Was so simpel als »Hand-Knie-Fuß« angekündigt wird, hat es in sich: Nacheinander werden von Kopf bis Fuß sämtliche Körperteile in festgelegter Reihenfolge mit der Hand angetippt – wohl dem, der ein gutes Gedächtnis hat und nicht jedes Mal neu checken muss, ob Ellenbogen vor Hüfte kommt. Fanny fühlt sich als erste sicher genug, um die komplexe Abfolge auch alleine vor der Gruppe zu zeigen. Dann noch einmal Konzentration für alle: »Schneller!«, steigert Kristina das Tempo. »Och nö! Auja!«, schallt es ihr je nach Überforderungsgrad entgegen. »Können wir das auch immer unterschiedlich machen?« Leon hat noch nicht genug und braucht Abwechslung. Also folgen Variationen aus großen und kleinen Bewegungen, schnelleren und langsameren. Kristina überblickt die Runde: »Wem fällt noch ein Gegensatzpaar ein?« »Spaß und Muskelkater!« kommt es prompt zurück. Dann doch lieber erstmal eine kurze Verschnaufpause.

»Wenn wir uns ein Bewegungsrepertoire oder eine Choreografie ausdenken«, erklärt Kristina, »dann müssen wir auch in der Bewegung auf Veränderungen und aufeinander achten und Aktionen gemeinsam durchführen. Bewegung ist auch eine Sprache; wir sprechen so miteinander. Also: Alle Gesten gut führen und mit Spannung, denn jede Haltung erzählt auf der Bühne etwas. Das sieht man schnell, wenn jemand mal dein Bewegungsspiegelbild ist.« – »Das ist schon echt anstrengend. Warum machen wir das?« – »So lernen wir neue Bewegungsabläufe kennen, oder was meint ihr?« Theo überlegt kurz: »Weil wir dann auch mehr Ausdauer haben. Und Energie … und Muskeln.« »Stimmt«, nickt Kristina, »aber wir machen ja nicht einfach nur Sport, sondern auch was für unser Gehirn. Da werden nämlich mit jeder neuen Bewegung auch neue Verbindungen geknüpft. Und das probieren wir jetzt gleich mal!« Gleichmäßig verteilt stehen alle im Bühnenraum. »Und jetzt: Mund zu, nicht reden! Nicht berühren! Wir gehen erstmal nur im Raum spazieren ohne miteinander in Kontakt zu kommen.« Gemächlich setzt sich die Gruppe in Bewegung, jede:r möglichst in eine andere Richtung. Dann heißt es: stopp, schnelleres Tempo und schließlich: turboschnell! Weiter geht es rückwärts, dabei die Augen immer hinten haben und aufeinander aufpassen, um Crashs zu vermeiden. Kristina dreht die Anlage auf: Die Musik gibt das Tempo vor, Zeitlupen-Gänge sind angesagt, wer sich begegnet, tritt in Kontakt und begrüßt sich so langsam wie möglich. Für die Zweier-Teams gibt es die nächste Aufgabe: Kommt von a nach b, aber der Boden darf dabei nur von zwei Füßen berührt werden. Soweit alles noch machbar, also nächster Schwierigkeitsgrad: Jetzt seid ihr zu viert, aber nur vier Füße und zwei Hände dürfen zum Fortbewegen der Gruppe gebraucht werden. Strategisch teilen sich die Teams ganz von selbst in solche, die einfach ausprobieren und spontan in die körperliche Aktion gehen und die, denen eine vorausgehende Planung die halbe Miete ist.

Nachder Pause übernimmt Musiker Alex und nun wird der Körper selbst zum Instrument: »Wir hatten beim letzten Mal einen Sambarhythmus – wer erinnert sich denn noch an die Abfolge?« Das Körpergedächtnis ist gefragt: Wie funktionierte die Kombination aus Klatschen, Stampfen und Summen? Franzi fällt es schließlich wieder ein und sie gibt den Takt vor. Zu viert improvisiert jede Gruppe ihren eigenen Rhythmus, kurz vor Schluss steht dann die Gesamtimpro aus den verschiedenen Mini-Kompositionen. Und klar: Am meisten Spaß macht’s natürlich, wenn alle gemeinsam ›den Takt halten‹, was nichts anderes heißt, als gleichzeitig so laut wie möglich auf den Boden zu springen. Jetzt wäre es eigentlich spannend zu wissen, wem das Büro unter der Probebühne gehört …