Liebe Martina, lieber Alexander, ALL OUR FUTURES war in seinem Umfang ein bis dato einmaliges Theaterprojekt in Deutschland. Wie kam es zu dieser Idee – hat sich das aus anderen Überlegungen ergeben, oder war von Anfang an ein Projekt dieser Größenordnung geplant?

Martina Droste (MD): Die Initialidee hatte Anselm Weber, der mit dem Beginn seiner Intendanz am Schauspiel Frankfurt ein Projekt der kulturellen Bildung starten wollte, das Theater in die Stadt trägt und einen Schwerpunkt bei Jugendlichen setzt. Ich war bereits unter der Intendanz von Oliver Reese am Haus und habe den Bereich Junges Schauspiel aufgebaut. Anselm Weber hatte mir dann angeboten, dort weiterzumachen – ein Projekt zu initiieren, das Theater zu den Jugendlichen bringt; das im Stadtteil ansetzt, bei den Lebensbedingungen vor Ort. Er hatte schon ähnliche Projekte in Essen und Bochum initiiert, und ich wiederum habe das Junge Schauspiel immer schon als sehr inklusiv begriffen. Die Lebenswirklichkeiten von Jugendlichen bilden hier wirklich das Zentrum der Auseinandersetzungsprozesse. So kamen unsere Vorstellungen gut zusammen.

Alexander Leiffheidt (AL): Ich selbst bin dazu gekommen, weil ich einerseits Interesse bekundet habe, andererseits selbst Erfahrungen in inklusiver Sozialarbeit mitbringe – eine Arbeit zwischen sozialer und künstlerischer Arbeit, für die Produktionsfirma Escape Artists in London. Das war zwar nochmals ein ganz anderes Arbeitsfeld, nämlich hauptsächlich im Strafvollzug und im Bereich Mental Health, aber trotzdem konnte ich von dort einiges mitnehmen: zum einen die Strukturierung eines solchen Projekts, zum anderen, dass und wie man von Anfang an schon die Klienten, die Teilnehmer:innen mitdenkt. So haben wir zusammengefunden. Und was die Frage nach dem Umfang des Projekts betrifft: Der lange Zeitraum war tatsächlich schon sehr früh Teil unserer Überlegungen. Die Arbeit an drei Stadtteilen gleichzeitig und im Schauspielhaus entstand dann aus der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Stadt, auch bereits relativ früh.

Gemeinsam habt ihr dann die künstlerische Leitung von AOF übernommen. Wie sah die Rollen- und Aufgabenverteilung während der Projektlaufzeit aus?

MD: Wir haben das Konzept gemeinsam mit Anselm Weber und der künstlerischen Betriebsdirektorin entwickelt. Außerdem habe ich hier in Frankfurt im Vorfeld organisiert: die Schulen kontaktiert, Leute mit ins Boot geholt, die Künstler:innen akquiriert, später mit Alexander zusammen; kurzum, eine grobe Organisationsstruktur geschaffen. Später haben wir dann eine Produktionsleiterin engagiert, so dass wir uns gemeinsam darauf konzentrieren konnten, mit den Künstler:innen den Prozess zu starten: Ziele formulieren, Workshops machen, Künstler:innen- und Lehrer:innengruppen zusammenbringen. Außerdem haben wir uns immer wieder bei Fragen zu didaktischen Prozessen mit eingeschaltet. Dann haben wir gemeinsam mit den Künstler:innen die großen Tryouts entwickelt. Formen für den performativen, offenen Charakter gesucht.


AL: Richtig, zur Anfangszeit war ich noch gar nicht in Frankfurt. Während Martina hier vor Ort die Strukturen aufgebaut hat, einige Künstler:innen getroffen und ausgewählt hat, habe ich meine Zeit damals noch in Bochum damit verbracht, Unterstützer zu finden, das Projektkonzept weiter zu formulieren. Das hat sich ganz gut ergänzt, und diese Ergänzung konnten wir im gesamten Projektverlauf fortführen. Martina ist ja in vielen Projekten ihre eigene Dramaturgin. Sie ist es gewöhnt, auch dramaturgisch zu denken – da überschneiden wir uns sicher. Gleichzeitig hat sie theaterpädagogische Kompetenzen, die ich überhaupt nicht habe. Dafür konnte ich zum Beispiel Erfahrungen in der Projektmittelakquise einbringen. So hat sich das im Laufe des Projekts gut zusammengefunden und ergänzt.  Die Kernaufgaben einer künstlerischen Leitung, also die Frage, wie leite ich so eine gar nicht mal kleine Gruppe von Mitarbeiter:innen und Teilnehmer:innen, da entwickeln sich ja starke Dynamiken, da kommen Konflikte auf, die moderiert werden müssen…das haben wir sehr gut zusammen machen können.

MD: Absolut!

Veränderung braucht Zeit

Neben der Teilnehmer:innenzahl war auch der zeitliche Umfang von ALL OUR FUTURES mit rund drei Jahren Projektzeit beispiellos. Aus Kindern sind Jugendliche, aus Jugendlichen junge Erwachsene geworden. Wie habt ihr das erlebt, einmal über so einen langen Zeitraum mit einem Projekt beschäftigt zu sein?

AL: Ich war schon vor AOF ein Freund von Projekten, die einen langen Atem haben. Und bin das noch immer. Natürlich hat alles Vor- und Nachteile, aber ich finde, dass die Vorteile, sich über einen langen Zeitraum mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen, die Nachteile überwiegen. Zum einen spielt da etwas rein, was in deiner Frage schon anklingt: Man kann teilhaben daran, wie junge Menschen langsam erwachsen werden, wie sich die Fragestellungen ändern, mit denen sie sich beschäftigen – drei Jahre, das sind ja in diesem Lebensabschnitt sehr viel mehr als drei Jahre zum Beispiel in meinem Alter. Die Veränderungen, die da stattfinden, sind schon gewaltig. Das begleiten zu können und da künstlerisch immer wieder ansetzen zu können, das lohnt sich. Dadurch konnten wir natürlich immer wieder aufbauen auf Erfahrungen, die wir schon gemeinsam gemacht hatten. Und zum anderen haben wir beobachten können, dass die Jugendlichen mit Fragen der künstlerischen Autonomie zunehmend besser umgehen konnten, je länger sie mit den Künstler:innenteams arbeiteten.

Was meinst du damit genau?

AL: Wenn man einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen sagte: »Ihr könnt machen, was ihr wollt«, dann kommt vielleicht erst einmal gar nichts…

MD: Oder etwas sehr Konventionelles, etwas Bekanntes…

AL: …genau das haben wir auch erlebt. Das heißt also: Dieser Prozess, der ja auch für professionelle Künstlerinnen und Künstler gar nicht so ohne ist, an dem man an einen Punkt gelangt, sich mit Fragestellungen selbständig künstlerisch zu beschäftigen, der dauert eine Weile. Man muss sich auch erst einmal entwöhnen von der Logik, immer sofort präsentierbare Ergebnisse zu schaffen. Das Finden von Dingen, die man gar nicht gesucht hat, als Eigenwert begreifen. Was in der Logik der Präsentation in kurzfristigeren Projekten schnell passieren kann. Das ist nur ein Vorteil von einigen, aber ein sehr wichtiger.


MD: Ich würde da durchaus zustimmen. Kunst muss ja erst einmal als Arbeitsprozess begriffen werden. Das Finden gemeinsamer Formen, und das Weiterentwickeln dieser Formen…die Erfahrung mit Präsenz, Präsentationsformen, Reaktionsformen – das kann ja wieder Auswirkungen haben auf die Arbeit, wenn man sie fortführt. Als zweiten Aspekt möchte ich noch die ganzheitliche Erfahrung anbringen: Diese künstlerischen Prozesse, die hier angestoßen worden sind, die hatten eine Körperlichkeit. Eine Sinnlichkeit. Wenn wir jetzt mal davon ausgehen, dass die meisten Jugendlichen mitten in der Pubertät oder kurz vorher eingestiegen sind, dann im Projektverlauf da heraus- und ins junge Erwachsenendasein eingestiegen sind, dann bietet das natürlich noch einmal ganz wunderbare Chancen, die künstlerischen Erfahrungen mit diesen zu verbinden. Man kann förmlich miterleben, wie sich ästhetische Kompetenzen entwickeln. Das erlebe ich ähnlich in meinen anderen Projekten am Jungen Schauspiel: Einerseits konsequent anders, weil wir über mehrere Monate intensiv am Stück arbeiten. Auf der anderen Seite sind die Jugendlichen aber auch längerfristig eingebunden, in verschiedene Projekte. Das ist grundsätzlich sehr wichtig. Veränderung ist ja ein langsamer Prozess. Die großen Veränderungen sind langsam und leise. Dafür braucht es Zeit. Wenn wir die utopische Qualität unseres Projekts in einem Willen zur Veränderung begreifen, dann braucht es Zeit.


AL: Wobei – da hast du gerade etwas angesprochen, das für mich wiederum ein wesentlicher Nachteil eines langfristigen Projekts ist. Im Vergleich zu den kürzeren Projekten. Dort beobachte ich, dass die eher dafür geeignet sind, ein eigenes Drehmoment zu entwickeln. Dass da ein Momentum erarbeitet wird, eine Eigendynamik entsteht, die alle Teilnehmer:innen mitreißt. Dass sie Feuer und Flamme sind! Das haben wir für AOF auch immer wieder geschafft, aber das blieb eher punktuell. Man kann nicht Feuer und Flamme sein für eine Sache über drei Jahre lang, ohne Unterbrechung.

MD: Das ist übrigens ganz zukunftsweisend, wie man die Erfahrungen aus beiden Szenarien miteinander verbinden kann. Also: Ich stelle im Jungen Schauspiel eine hohe Intensität her, über einen vergleichsweisen kurzen Zeitraum. Die dann dazu führt, dass sich die Gruppe über einen längeren Zeitraum trägt – wir haben ja jetzt schon Wiederaufnahmen, manchmal über ein, zwei Jahre. Das könnte ein spannender Gedanke sein: Wie man kurzfristige „Schübe“ in ein langfristiges Projekt verankert. Da müssten wir mal länger drüber sprechen (lacht).

Wobei das in Ansätzen ja schon durch die Tryouts versucht wurde, bei denen immer wieder Zwischenpräsentationen geschaffen wurden.

Beide, gemeinsam: Ja, das war genau unser Ziel!

AL: Aber trotzdem: Die Intensität, von der Martina aus ihren Gruppen berichtet …die ist nicht zu vergleichen mit diesem Projekt.

Ein Ziel von AOF war es, Jugendliche aus völlig unterschiedlichen, sozialen Lebensrealitäten zusammen zu bringen. Wie gut ist das eurer Meinung nach gelungen?

MD: Ich würde sagen, temporär ist das gelungen. Und das hat genau mit dem zu tun, worüber wir gerade gesprochen haben: Mit der Intensität, mit der Begegnungen stattfinden, mit der Einbindung in den Schulunterricht und vielleicht auch mit der Gesamtgröße des Projekts. Punktuell und temporär ist das gelungen. Es haben zumindest Begegnungen stattgefunden – und in diesen Begegnungen hat es Haltungsveränderungen zueinander gegeben. Das heißt: Grundsätzliche Vorurteile, diese Winner- und Loser-Kategorien, haben sich aufgeweicht. Es ist ein grundsätzliches Interesse aneinander entstanden. Belastbare Beziehungen? Eher nein, würde ich sagen. Oder wir wissen nicht davon! (lacht)

AL: Im Persönlichen geht uns das natürlich sowieso nichts an. Aber man kann sicher schon konstatieren, dass nicht alle als dickste Freunde aus dem Projekt gegangen sind. Das war auch gar nicht unser Ziel – und das kann ja immer nur temporär sein: Zu dem Zeitpunkt, an dem man gemeinsam künstlerisch arbeitet, ein Werk präsentiert, findet eine bestimmte Form von Begegnung und gegenseitiger Aufmerksamkeit statt. Ganz zentraler Begriff für mich. Auch das mussten wir erst gemeinsam lernen: Wie man sich Dinge zeigt, wie man anderen zuguckt. Einmal durch die Stereotypen hindurchzuschauen. Den oder die anderen zu sehen. Das kann in einem künstlerischen Rahmen geschehen: Indem man gemeinsam an einer Skulptur baut. Oder gemeinsam ein Publikum durch ein selbst gemachtes Museum führt. Aufmerksamkeit hat eine eigene ästhetische Qualität. Das ist auch ein Effekt der Langfristigkeit eines solchen Projekts. Das kriegt man nicht mal eben in einer Woche hin.

»Bei Projekten wie AOF kommt es sowieso immer mal zu Fitzcarraldo-Momenten«

Gerade bei einem solchen Mammutprojekt ist es sicher hilfreich, sich auch die Grenzen des eigenen Vorhabens bewusst zu machen. Die eigenen Handlungsspielräume zu formulieren. Welche Erwartungen kann ein Projekt wie dieses erfüllen – und was wäre vermessen, weil es eben immer noch ein künstlerisches Projekt ist und keine politische Handlung?

AL: Ja, das ist eine gute Frage. Weil es absolut notwendig ist, das zu formulieren, aber es zugleich auch gar nicht so einfach ist, da eine gute Abgrenzung zu schaffen. Weil du ob dieser Projektgröße auch sehr viele verschiedene Partner hast: Förder:innen, Institutionen, und jede:r hat seine oder ihre  eigenen Erwartungen. Darin liegt natürlich die Kunst, diese Grenzen zu finden. Beispielsweise: Die Kultur- und Organisationsformen der Schulen nachhaltig zu verändern. Das war so eine Erwartung, die an uns herangetragen wurde, die wir eigentlich von Anfang an hätten zurückweisen müssen. Das konnten wir nicht leisten, das muss ein Projekt wie AOF aber auch nicht. So ein Projekt kann einen Impuls liefern, das Weitertragen muss dann aber von anderen übernommen werden.

MD: Man muss die Trennung klar formulieren zwischen »Das verändert den Schulalltag, das wirkt in die Schulgemeinde zurück, und darum findet auch ganz viel an Schulen statt« – und »Wir machen ein Projekt mit Schüler:innengruppen, die sich künstlerisch begegnen; aus Schule kommend, die Schule als Lebensraum thematisierend«. Das ist zu Beginn eines Projekts total wichtig. Da haben wir uns nicht klar genug mit allen beteiligten Institutionen verständigt. Denn so eine grundlegende Umstrukturierung, wie sie zum Beispiel die Idee einer »Kulturschule« bedeutet, die kann tatsächlich nur von den betreffenden Schulen in Zusammenarbeit mit einer Institution wie der Kulturstiftung realisiert werden und nicht in einer solchen Projektstruktur. Auch die Verankerung in die eigenen Strukturen, das muss die Schule leisten.


AL: Zumal es in einem Projekt wie AOF sowieso immer wieder zu Fitzcarraldo-Momenten kommt: als ob man ein Schiff den Amazonas hinauf über einen Berg ziehen muss. Da rede ich jetzt gar nicht von Erwartungshaltungen, sondern von praktischen Gegebenheiten. Dass man acht Schulen mit acht Stundenplänen koordinieren muss. Dass man große Mengen von Jugendlichen durch die Stadt transportieren muss, so dass sie möglichst zeitgleich ankommen und zusammen etwas machen können… das klingt zwar im Vergleich so, als seien das einfache Fragen, ist aber alles nicht trivial. Denn wenn so etwas nicht funktioniert, findet halt gar nichts statt. Das ist wahnsinnig viel Koordinationsaufwand. Wir sind sehr froh, dass wir mit Annika Rink eine tolle Produktionsleiterin gefunden haben – übrigens auch das ein Vorteil der Langfristigkeit.


MD: Kann ich nur unterschreiben, und würde noch einen Schritt weitergehen: Wenn man das möchte – wie weit passen wir uns den Logiken des Unterrichts an? Also Benotungen, Anwesenheitspflicht, zeitliche Begrenzung? Und dann die unterschiedlichen Arbeitsweisen zwischen Lehrer:innen und Künstler:innen. Das muss alles koordiniert werden. Das muss man im Vorfeld sehr gut kommunizieren. Wir haben zwar von Anfang an die Schulleitungen gut eingebunden, aber…Wir sind mit einem Konzept an sie herangetreten, viel Begeisterung, aber ich glaube, so ist eine kleine Schieflage entstanden. Die Schulen waren begeistert, aber es war eben auch nicht ganz »ihr« selbst entwickeltes Projekt. Wir haben nicht gut genug getrennt zwischen künstlerischen und schulischen Prozessen.

Man sollte die Gemeinsamkeiten an den Anfang setzen

Was würdet ihr, mit diesen Erfahrungen von heute, bei einem nächsten Projekt anders machen?

MD: Wir haben ja zum Ende der großen Phase eine Fachtagung organisiert, »Haltungen hinter den Handlungen«. Ich glaube, dass man ganz lange über die Schwierigkeiten von Strukturen sprechen kann, ohne dass das besonders hilfreich ist. Die eigentliche Verständigung kann produktiv erfolgen über die Frage: Was sind denn eigentlich unsere inhaltlichen Ziele an dieser Stelle? Inwieweit können künstlerische Prozesse dabei helfen, Lebenswirklichkeit als eine gestaltete Wirklichkeit erfahrbar zu machen – für uns alle, für alle Beteiligten? Wie können wir Wünsche zur Veränderung einbringen und utopische Qualitäten entfalten? Ethische Maßstäbe gemeinsam bearbeiten? Ich glaube, so erhalten wir viel mehr Gemeinsamkeiten als trennende Elemente. Und die können dann handlungsweisend werden, auch für die Organisation. Alle Beteiligten haben ein unglaubliches Engagement gezeigt. Es gab ja ein hohes Maß an intrinsischem Engagement! Und das liegt meiner Meinung nach daran, dass wir uns in den Inhalten, die wir bearbeiten wollten, sehr nah waren. Diese Inhalte gilt es, an den Anfang zu setzen. Und im Prozess immer wieder zu aktivieren, mit allen Beteiligten.

Wäre das ein Punkt, den ihr ähnlichen Projektvorhaben mit auf den Weg geben würdet: mit allen Beteiligten vor der Aktion erst einmal gemeinsame Inhalte zu formulieren?

AL: Ja, unbedingt. Das ging im Fall von AOF natürlich nicht, aber: Nächstes Mal würde man vielleicht mit einer solchen Konferenz anfangen.

MD: Genau!

AL: Die wichtigste Frage, die sich alle Beteiligten von Anfang an stellen sollten, lautet: Was wollen wir denn überhaupt inhaltlich erreichen? In diesem Fall – was will so eine Institution wie das Schauspiel, was wollen die Schulen? Bei so einer Konferenz dürfen natürlich auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht fehlen. Das würde ich beim nächsten Mal definitiv anders machen. So eine Mitsprache kann zum Beispiel bedeuten, dass die Jugendlichen bei der Entwicklung der Projekte ihre Reaktionen auf das, was Erwachsene da vorschlagen, einbringen.

Ein anderer Punkt, den ich definitiv anders machen würde: Wir waren bei der Formulierung der Konzepte sehr vorsichtig, was konkrete künstlerische Handlungen angeht. Ich glaube, so vorsichtig hätten wir gar nicht sein müssen. Man hat im Laufe des Projekts gemerkt, dass es immer dann klappte mit der Eigendynamik, wenn relativ konkretes, künstlerisches Handeln auf der Tagesordnung stand. Eben: Wir gründen zusammen ein Museum, bauen zusammen eine Skulptur.

MD: …und da bin ich bei der zweiten Handlungsebene. Das alte Prinzip der Partizipation gilt für alle Beteiligten. Muss für alle gelten. Das ist ein Grundkriterium, das immer wieder formuliert und reflektiert werden muss. Wir haben das selbstverständlich versucht, durch regelmäßige Teamabende, Workshops mit den Künstler:innen und Lehrer:innen – aber wir sind gut genug in Feedback-Schleifen geblieben. Für die Zukunft würde ich mir wünschen: Module zu entwickeln, in denen das wirklich gemeinsam läuft. Und wenn es nur Vertretungen sind – man kann natürlich nicht mit 200 Jugendlichen plus allen anderen gleichzeitig sprechen. Aber da Strukturen zu entwickeln, wie man in so einem Prozess der Selbstermächtigung, der Selbstwirksamkeit bleiben kann, das ist eine Grundhaltung.


Die letzte Phase von ALL OUR FUTURES ist völlig von der gerade anlaufenden Corona-Pandemie durcheinandergebracht worden. Plötzlich war an die Schlussvorstellung nach dem Stück von Tina Müller nicht mehr zu denken. Stattdessen wurde, unter immer wieder neuen Auflagen, in kleinen Gruppen ein Abschlussfilm gedreht. Könnte man sich mit diesem Wissen künftig anders aufstellen? Würdet ihr etwas anders machen?

MD: Ganz klar nein! Man kann nicht alle Eventualitäten im Voraus bedenken. Und man kann unter normalen Umständen auch nicht immer im Vorsichtsmodus agieren. Sonst hätten wir die wichtige Arbeit mit der Autorin Tina Müller, mit der Regisseurin Jessica Glause, die über einen kürzeren Zeitraum nochmals ganz anders, auch intensiver mit den Jugendlichen arbeiten konnten, nicht so eingeplant. Dass der letzte Teil von AOF in dieser Form ausfallen musste, war schmerzhaft. Aber wir alle haben versucht, unter den gegebenen Umständen das Beste herauszuholen.


AL: Sehe ich genau so. Im Gegenteil: Ich finde es im Rückblick richtig, dass wir unter den Bedingungen der Pandemie schon ganz zu Beginn des ersten Lockdowns die Devise ausgegeben haben: Wir führen das Projekt gemeinsam zu Ende, wenn es irgend geht – und wir setzen die Jugendlichen an erste Stelle. Wir wollen, dass es für die Teilnehmer:innen einen Abschluss gibt, wie auch immer der ausfällt. Natürlich mussten wir gehörig schlucken, als klar wurde, dass dieser Abschluss nicht aus dem gemeinsamen Bühnenerlebnis bestehen würde. Dafür gibt es aber auch einen Vorteil: Der Film, der jetzt entstanden ist, bleibt als Dokument bestehen.

Könnt ihr noch etwas zur Zweiteilung des Projekts sagen - warum die Idee, von Anfang an zwei unterschiedliche künstlerische Prozesse zu etablieren? Gern auch mit Blick auf die inhaltliche Ausrichtung der Abschlussinszenierung, die ja schon nochmals herausgehoben war.

AL: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das noch einmal so planen würde. Das Projekt hat ja insgesamt über die drei Jahre ein bisschen etwas von einem dialektischen Dreischritt: Das Eigene, das Andere, das Gemeinsame am Schluss. Da liegt es nahe, wenn man ein Projekt entwirft, für diesen letzten Abschnitt noch einmal an eine andere künstlerische Handschrift zu denken. Oder auch sich zu fragen: Sind die Kompetenzen, die für die regelmäßige Arbeit mit den Jugendlichen in verschiedenen künstlerischen Disziplinen benötigt werden, dieselben, die man für eine große Abschlussinszenierung auf der Bühne des Schauspielhauses braucht? Vermutlich eher nicht. Das war der Stand bei der Projektentwicklung. In der Praxis haben wir dann aber beobachtet, dass der Wechsel vom einen auf den anderen künstlerischen Prozess doch mit großen Schwierigkeiten behaftet war. Das hatte nichts mit den beteiligten Künstler:innen zu tun, sondern tatsächlich mit der Projektstruktur.

Habt ihr etwas aus AOF mitgenommen, persönlich oder fachlich, das ihr so vorher nicht erwarten konntet? Was hat euch überrascht, begeistert?

AL: Von so einem großen Projekt lässt sich viel lernen, sowohl persönlich als auch fachlich – auch, weil die Zeit dafür da ist, gemeinsam zu reflektieren und das Reflektierte dann wiederum in der Praxis zu erproben. Wir haben das während des Projekts in den verschiedenen Gruppen oder auch im Gesamtteam immer wieder gemacht, und man macht das sicher auch für sich selbst oder im engsten Kreis, zusammen mit Martina. Wenn ich jetzt auf das Gesamtprojekt zurückblicke, dann sind die Momente, die mir am lebendigsten in Erinnerung bleiben, die, in denen das gemeinsame, konzentrierte und aufeinander aufmerksame Handeln der Jugendlichen selbst eine ästhetische Qualität bekam. Das ist immer wieder geschehen – mal im Rahmen von Performances, mal eher zufällig beim gemeinsamen Aufbau einer Skulptur oder ähnlichem. In diesen Momenten, könnte man sagen, sind Heterotopien entstanden – keine »Nicht-Orte« im Sinne von Utopien, sondern konkrete, miteinander gelebte Räume, in denen bestehende Grenzen zwischen den Jugendlichen sowohl aufgehoben, widerlegt als auch dargestellt werden konnten. Das war für mich immer faszinierend, und ich hatte es so nicht erwartet.

MD: Ich habe die größten Überraschungen ebenfalls in diesen einzelnen Momenten erlebt, aber auch in den letzten großen Gesamttryouts, bei denen die Vielzahl der unterschiedlichen künstlerischen Einzelarbeiten ineinandergriffen, Synergien entwickelten und für ein paar Stunden die Atmosphäre eines gemeinsamen Ganzen entstand, obwohl viele im Vorfeld gesagt hatten: »Das bringen wir niemals alles an einem Tag unter einem Dach zusammen«. Und dann ging es doch!