Riedberg-Gymnasium. Theaterraum. Ein Stuhlkreis. Gleich soll es für die ersten Schüler:innen raus und auf Geschichten-Suche gehen. Aber wie macht man das eigentlich: Dem einen oder der anderen einige biografische Highlights oder alltägliche Kuriositäten entlocken? Gibt es überhaupt eine sichere Strategie, um aus völlig Unbekannten ‚Menschen vom Riedberg‘ zu machen? Wer wohnt und lebt hier denn in der Nachbarschaft? Bald ist klar: So wird das nichts. Theorie hilft nicht weiter. Deshalb klappt Paul unvermittelt seinen Laptop zu und schlägt vor: »Wir werden jetzt einfach losgehen. Dann schauen wir vor Ort, was passiert und was funktioniert.« Gesagt, getan. Ausgestattet mit ein paar Äpfeln und Mandarinen als Tauschgut geht’s zwei Ecken weiter ins moderne Riedberg-Zentrum – eines von jenen Kaufhäusern, die einfach zu jeder Tageszeit nagelneu und frisch gewischt aussehen, die mit Einkaufswagen-Rolltreppe und LED-Leitsystem mehr als durchdacht sind. Hier vertreibt sich niemand einfach so die Zeit – wer im Erdgeschoss zur Glastür hereineilt, weiß genau, was besorgt werden muss und wie der kürzeste Weg dorthin aussieht. Zunächst also eine schwierige Ausgangslage, denn auf den ersten Blick scheint niemand so recht in Pausenstimmung und Plauderlaune zu sein. Simone und Nadja gehen das Ganze dennoch gelassen und vor allem mit Methode an: Sie schreiben ihre Fragen auf kleine Zettel, sodass in einem kurzen Satz anonym auf der Rückseite geantwortet werden kann. Was machen Sie heute hier? Für wen haben Sie eingekauft? Was ist Ihnen in Ihrem Beruf schonmal Spannendes passiert? An was denken Sie beim heutigen Wetter? Gibt es hier einen Gegenstand, der Sie an etwas erinnert? Wenn Sie sich ein Geschäft hier im Riedberg-Zentrum wünschen dürften – welches wäre es? Vielleicht ein Phantasieladen? Noch bevor die beiden es schaffen, auch die letzte Frage vorzulesen, ruft eine Dame mit weißem Haar und elegant-schwarzem Hut begeistert dazwischen: »Das mag ich! Das ist Wetter wie es sein sollte!« In der Tat: Draußen wartet Novembertrübnis vom Feinsten mit verfrühter Dämmerung und kaltem Nieselregenwind.
Gegenüber sind Jonas und Tilman schon seit einer ganzen Weile ins Gespräch vertieft: Sie haben eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter getroffen und es geht unüberhörbar um längst vergangene Lieben und Leidenschaften. Gerade werden mit viel Gelächter die heute Jahre zurückliegenden Trennungsgeschichten der beiden Damen zum Besten gegeben: »… dann habʼ ich mich von meinem Mann getrennt – von dem habʼ ich sowieso immer bloß Migräne bekommen.«
An einer Bank haben Nadja und Simone inzwischen Bekanntschaft mit Oma, Opa, Enkelkind 1 und 2 gemacht. Der Kleinste möchte unbedingt auch etwas aufschreiben, beherrscht aber anscheinend erst eine Handvoll Buchstaben und bringt mit einem krakeligen »HAYHAY« ganz dada-haft kurzerhand seine eigene Sprache zu Papier.
Im Rewe nebenan sind Jonas und Tilman in der Kühlabteilung an einen ehemaligen DDR-Bürger geraten, der sich noch genau an den Tag des Mauerfalls erinnert – vor allem daran, wie er und seine Freunde für diesen Tag riesige Plakate gemalt und bereits die Einzelheiten der nächsten Demonstration geplant hatten, die dann glücklicherweise gar nicht mehr stattfinden musste.

Fazit am Ende des Nachmittags: Menschen sind oft spannender als sie aussehen und vor allem auskunftsfreudiger als gedacht. Für heute jedenfalls ist genügend Material an Lebensgeschichten zusammengekommen und in der nächsten Probe geht es dann an die Weiterverwertung. Denn wie an allen anderen Frankfurter Schauplätzen auch, steht im zweiten Projektjahr nicht mehr die Welt der bekannten eigenen vier Wänden im Vordergrund, sondern die Entdeckung und Aneignung des öffentlichen Raums. Am Riedberg wird das gerade als Aktionskunst im Mini-Format getestet.