Zu Beginn dieses frühen Morgens in der Orangerie werden Stifte verteilt: Jede:r ALL OUR FUTURES der Louise-von-Rothschild-Schule bekommt je einen grünen Buntstift, einen roten Buntstift und einen Kugelschreiber. Tina Müller ist zu Besuch. Vierzehn Seiten hat sie für diese Leseprobe dabei – »alles, was ihr hier lest, ist von irgendjemandem hier schon einmal gesagt worden,« erklärt die Autorin des noch unbetitelten Theaterstücks. Eine Szene hat sie extra für diese Gruppe geschrieben. Basis bildeten die gemeinsamen Gespräche, die sie bei ihren Probenbesuchen mit Einzelnen oder in kleinen Gruppen geführt hat. Ob die Schüler:innen sich wiederfinden werden? Um diese Frage dreht sich alles an diesem Vormittag. Denn die Textpassagen, die hier heute vorgelesen werden, müssen nicht nur auf der großen Bühne im Schauspielhaus sitzen. Sie sollen auch, auf irgendeine Weise, repräsentativ sein für die Stimmen der Jugendlichen. Nicht jeder einzelne Satz muss dabei von jedem Gruppenmitglied vertreten werden. Klar. Aber als mehrstimmige Angelegenheit soll das Ganze dann doch etwas mit dem Leben und den Gedankenwelten der Protagonistinnen und Protagonisten zu tun haben. Das Herantasten ans Skript und an die Rolle, das gibt es so auch bei regulären Theaterproben mit regulären Schauspieler:innen. So viel Mitspracherecht und Freiheiten wie bei Müller haben die Darsteller:innen sonst aber nicht immer.

Es geht los. Einmal reihum alles lesen, bitte! Die Autorin animiert zur Aufrichtigkeit: „Wenn ihr merkt: das passt nicht für mich, dann will ich das sehr gern wissen!« Noch ist die Gruppe allerdings geschlossen höflich. Nach dem ersten Leserundgang kommen vor allem nette Rückmeldungen. Viele freuen sich, endlich mit einem längeren Stück Text zu tun zu haben. »Ich hätte es mir natürlich anders vorgestellt, aber ich find’s gut, dass es etwas mit der Realität zu tun hat,« lautet eine typische Rückmeldung. Vielleicht hilft ein Verweis auf die Stifte: »Rot bedeutet: das mag ich nicht, Grün bedeutet: das mag ich, kann bleiben. Und mit Kuli könnt ihr notieren, was dort stattdessen stehen sollte.«

Die Kritik kommt mit der Vorstellungskraft

Was in jedem Fall auch hilft, sind stetige Übung und die Konzentration auf das geschriebene Stück. Heute gibt es keine Ablenkung. Alle lesen für sich und dann wieder im Wechsel laut, und so langsam werden erste Passagen markiert oder beschriftet. Man arbeitet sich vor. Die Schüler:innen stellen aber erst einmal Gegenfragen: »Wenn wir das alles vorlesen, was machen wir dabei eigentlich?« Es scheint schwierig, das gedruckte Wort als fertiges Stück vorzustellen. Bühnenbild und Regie liegen nicht in der Hand der Autorin, aber ein paar Details kann sie doch mitgeben. Und so der Imagination auf die Sprünge helfen. Zum Beispiel: »Ich darf noch nicht zu viel verraten, aber ihr habt wirklich tolle Kostüme!«  Überhaupt, meint Müller, seien die ALL OUR FUTURES doch schon ziemlich gut vorbereitet, hätten während der zweieinhalb Jahre viele Methoden und Techniken gelernt und sich zu eigen gemacht, auf die sie später im Schauspielhaus zurückgreifen können.

Mit der Vorstellungskraft wird auch der Text greifbarer und kommen die ersten kritischen Anmerkungen auf den Tisch. Generell, sind sich die meisten einig, mögen sie es nicht so sehr, wenn Erwachsene sich mit Jugendsprache anbiedern. Was bedeutet das nun fürs Stück? Die Textpassagen werden schließlich von den Schüler:innen selbst vorgetragen. Die paar Kraftausdrücke hier gehen in Ordnung, so das Urteil. Andere Sätze würde man so nicht sagen. Jedenfalls nicht mehr. Oder gerade nicht. Manche Passagen erscheinen den Lesenden zusammenhanglos, aber es sind ja auch nur Auszüge, einzelne Szenen. An einer Stelle geht es darum, die Welt stolz zu machen. Damit kann sich Hind gar nicht identifizieren: »Die Welt, das sind ja Milliarden Menschen. Ich kenne höchstens Tausend. Und von den Tausend kann ich höchstens 20 stolz machen.« Andere finden größeren Anklang bei den Schüler:innen. Gerade die Absätze über Umwelt und Nachhaltigkeit gefallen.


Zwischendurch stellt Tina Müller Fragen. Gerade zum Thema Zukunftswünsche und –Visionen fallen viele Antworten. Luis wünscht sich mehr Engagement und dass alle Menschen respektvoll miteinander umgehen. Umweltschutz spielt für die meisten eine wichtige Rolle. Allerdings auch nicht immer – über Schuhe mit Plastiksohlen, meint wieder Hind, würde sie sich eher keine Sorgen machen. Ihre Alltagssorgen drehen sich um andere Dinge: »Zum Beispiel, wenn ich ein belegtes Brötchen sehe und nicht weiß: Was, wenn da jetzt Schweinefleisch drauf ist?« Das isst sie aus religiösen Gründen nicht.

Manche Fragen verfangen sofort, zu anderen fällt den Schüler:innen wenig ein. Anforderungen? Empfinden sie vor allem von Mitschüler:innen, zum Beispiel, wenn es um gutes Aussehen und die richtigen Klamotten geht. Nur ein bisschen von den Eltern. Und kaum von der Gesellschaft an sich. Zumindest formulieren sie das heute nicht so. »Anständig sein,« diese Pflicht fällt immer wieder. Nicht mit den falschen Leuten rumhängen. Nicht rauchen, nicht trinken, gute Umgangsformen, respektvoll sein. Die Jungen sind deutlich stiller bei diesem Thema. Die Antworten notiert die Theaterautorin, meist wortlos, denn ihre Rolle ist hier erst einmal die der Zuhörerin. Später wird sie daraus neue Sätze formulieren, vielleicht auch Passagen komplett umstellen oder streichen. Einige Aussagen und Überlegungen, die heute gefallen sind, wird man dann auch in der finalen Fassung wiederfinden.