Als Bildhauern stellt Kristin Lohmann die Dinge unseres Alltags gern auf den Kopf. Bei ALL OUR FUTURES unterstützt sie das Team WEST im Bereich Bildende Kunst. Hier erklärt sie, wie Zukunftsfragen im Projekt konkret werden, warum eine Bergdorf-Idylle nicht immer die beste Wahl ist – und wann es auch schon einmal ans Eingemachte geht. 

Kristin, als Bildhauerin fertigst du »Schnittblumen« mit millimetergenauen Maßen, bei denen auch einmal nur noch die Stängel in der Vase übrig bleiben. Oder kleisterst eine Postkarte mit 45 1-Cent-Briefmarken zu…

Mir geht’s darum, einen anderen Blick auf alltägliche Situationen zu werfen, zu schauen: Können Sachen, die eigentlich schon so klar sind in ihrer Form oder Handhabung sind, noch einmal anders begriffen werden? 

Es sind Dinge und Themen, die man eigentlich kennt. Die löse ich aus ihrem eigentlichen Kontext heraus und setze sie in einen, für den Betrachter, neuen Zusammenhang. Das löst Irritationen aus: Wo ist denn jetzt überhaupt die Kunst? Man muss manchmal schon genau hinschauen, um den Unterschied zwischen dem bekannten Alltagsgegenstand und meiner Kunst zu entdecken. Deshalb interessieren mich oft die Kleinigkeiten, unscheinbare Dinge, die unheimlich viel aufzeigen davon, wie wir, unser Leben oder unsere Gesellschaft funktioniert.

Wie findet sich dieser Zugang im Projekt wieder? Wie arbeitest du als Bildhauerin mit den Schülerinnen und Schülern? 

Ich würde es als meine Aufgabe verstehen, Fragestellungen über das Bildnerische zu stellen. Natürlich wird auch in unserem Projekt viel über das Thema Zukunft geredet. Dabei geht es um viel mehr und nicht nur darum, ob es mal fliegende Autos geben wird oder, ob ich in zehn Jahren Job und Familie habe. 

Viele dieser Fragen entstehen bei mir aus dem künstlerischen Prozess heraus. Was heißt das: Eine Aufgabe in der Gesellschaft zu haben? Ein Privileg oder auch Verantwortung zu haben, mitgestalten zu können?  Für viele der Kinder und Jugendlichen ist ja schon das Fußballtraining übermorgen die Zukunft. Diese Themen sind also weit weg, komplex und auch wenig konkret für die Jugendlichen. Da kann ich sie über die Bildende Kunst heranholen.

»DANN MERKST DU PLÖTZLICH: JETZT GEHT'S ANS EINGEMACHTE«

Wie kann man sich das praktisch vorstellen? Hast du ein Beispiel?

Wir haben eine Papierlandschaft gebaut, ich habe drei Szenarien zur Auswahl gestellt – Utopie, Stadt, die Wahl fiel dann aber auf eine klassische Landschaft. Und erst einmal wurde ganz klassisch angefangen. Bäume, Berge, die werden erst einmal als natürlich vorausgesetzt, alles easy! Doch dann plötzlich kamen ein kleiner Zaun, ein Bootssteg…da passierte plötzlich etwas. Sobald ein bewusster menschlicher Eingriff sichtbar wurde, waren längst nicht mehr alle einverstanden. Etwa nach dem Motto: »Ein kleines Bergdorf ist für mich okay. Aber die Bergbahn oder das Windrad – das will ich nicht!« 

Und da konnte ich eingreifen und Fragen stellen: Was heißt denn das: Alle wollen alternative Energien, aber keiner das Windrad vor dem eigenen Haus? Was kannst du noch akzeptieren, was nicht? Da geht es viel um Symbolik: Ein Gipfelkreuz, eine Moschee... unterschiedliche Glaubensrichtungen und Meinungen treffen in der Gruppe aufeinander. Dann merkt man plötzlich: Jetzt geht’s ans Eingemachte. Das finde ich spannend, diese Momente. Was passiert denn jetzt, wieso seid ihr euch jetzt nicht mehr einig? Man kann keine reinen politischen Diskussionen führen. Aber man kann sich über die eigenen Toleranzgrenzen klar werden und auch darüber wofür man steht und eintreten will.

Und dann die Frage, wie diese Diskussionen wieder ins Bild zurückspielen...

Genau, denn diese Diskussionen müssen letztlich auch für ein Publikum sichtbar werden – die Leute wollen nicht nur eine schöne Berglandschaft sehen. Das ist doch dröge (lacht). Das versuche ich zu vermitteln. 

Was schlägst du stattdessen vor? Was kommt statt der Dorfidylle?

In der Kunst geht es ja immer darum: Du hast eine Idee, suchst Materialien, machst Skizzen, verwirfst…bis man dann irgendwann zu einem Produkt kommt. Mal eben schön schnell machen ist die eine Sache. Ein Interesse für etwas entwickeln, Fertigkeiten zu entwickeln, zu einem Ziel zu kommen, mit dem du zufrieden bist – das ist völlig kunstunabhängig. Dieser Prozess  - des Dranbleibens - ist mir total wichtig. Und der ist oft auch total frustrierend (lacht).Das versuche ich zu vermitteln: Es macht nicht immer alles nur Spaß, ist nicht immer alles nur abwechslungsreich und einfach. Aber es bringt Dir etwas, dran zu bleiben. 

Die Kunst bietet uns Freiheiten – einschließlich der, zu provozieren und auch mal Grenzen und Tabus zu überschreiten. »Darf man das?« –eine beliebte Frage.  In der Kunst darf ich provozieren. Kunst ist nicht dazu da, sich anzupassen und schön zu sein, sondern Fragen zu stellen und zum Nachdenken anzuregen, Anlass zu geben mal über den eignen Tellerrand zu schauen.

Wohin wird die Reise gehen?

Das würde ich wirklich gern komplett offen lassen. Denn das ist die große Qualität dieses Projekts. Es ist super viel passiert in den letzten Jahren. Ich bin selbst gespannt, aber ich scheue mich davor, zu sagen: Das ist das Endprodukt, und fertig. Natürlich wird es den Zeitpunkt geben, wo dieses Projekt zu Ende geht. Aber ich denke, dass diese Fragestellung, und das, was aus ihr heraus entstanden ist, in den drei Jahren nicht abgeschlossen sein werden.

Vielen Dank für das Gespräch!