Wer vor über hundert Jahren einen Spaziergang durch den Frankfurter Osten unternahm, der kam früher oder später auch an der Villa Günthersburg vorbei, einem markanten Herrenhaus im klassizistischen Stil mit vorhangumrahmten Fenstern, erbaut von der Bankiersfamilie Rothschild. Heute erstreckt sich hier der Günthersburgpark, und alles, was die Zeit überdauert hat, ist die ehemalige Orangerie: Mitten zwischen Wohnhäusern ragt das jahrhundertealte Klinkersteingebäude mit seinen blassroten Mauern und den großen Rundbogenfenstern empor. Es ist kurz vor Weihnachten, ein weiß-grauer Himmel umspannt den Bornheimer Stadtteil und kann sich nicht so recht entscheiden zwischen Regen und Schnee. Hochgezogene Schultern, Regenschirme, aber auch eine handvoll mutige Jogger:innen, die im Park nebenan weiter tapfer ihre Runden ziehen. Hier im Osten ist die alte Orangerie nun zum künstlerischen Forschungsraum geworden, aber auch zu einer Art Umschlagplatz für Visionen, Träume und Phantasien von drei ganz unterschiedlichen Gruppen: die Schule am Ried, die Louise-von-Rothschild-Schule und der Kinderschutzbund Frankfurt – kennengelernt haben sich die Kinder und Jugendlichen untereinander noch nicht. Heute also ist ein großer Tag für alle Beteiligten des Projekts: Die drei Schauplätze treffen zum ersten Mal aufeinander, im Gepäck noch Unfertiges und Provisorisches. Trotzdem soll die Bühne an diesem Nachmittag nicht zum Proben, sondern endlich auch zum Zeigen genutzt werden.
Hinein geht es durch eine schwere Holztür, beim Öffnen schlägt feucht-warme Luft entgegen, ein Dutzend Regenschirme in der Ecke hat kleine Pfützen gebildet. Aufgeregtes Gemurmel dringt aus dem schmalen Nebenraum, Künstler:innen und Produktionsleiterin stehen dicht gedrängt vor einem Tisch: Eine Gitarrensaite ist gerissen – und das eine halbe Stunde vor Beginn! Eilige Telefonate schwirren durch den Raum, eine Lösung muss her. Im großen Saal gleich nebenan bekommt von diesem Trubel niemand etwas mit, es herrscht angespannte Konzentration: Im früheren Altarraum der Kirche stehen gut zwanzig Kinder zusammen mit dem Musiker Alex im Kreis, derart beschäftigt, dass sie uns erste Eindringlinge gar nicht wahrnehmen. Für sie heißt es jetzt: Bloß schnell nochmal alles durchgehen – Wie war noch genau die Reihenfolge? Wer spricht wann? Wo stehe ich? Wie geht der Refrain? – bevor die anderen eintreffen. Alex ruft zur Konzentration, ein letztes Sich-Erinnern – schließlich geschafft, der Ablauf sitzt und die Applausordnung steht.
Alle drei Gruppen haben sich zusammen mit drei Künstler:innen aus den Bereichen Musik, Tanz und Performance auf Entdeckungsreise in ihre unmittelbaren Lebenswelten begeben. Für sie ging es in der ersten Phase des Projekts um ein neues Kennenlernen von alltäglichen Räumen, Wegen und Heimaten. Und schließlich um die Fragen: Wer sind wir? Was macht uns aus? Wie sieht unsere Lebenswirklichkeit aus? Was möchten wir erzählen? Und mit welchen künstlerischen Mitteln? Wo begegnen wir uns und wo auch nicht? Gemeinsam arbeiten sie seitdem an einer künstlerischen Übersetzung ihrer Erfahrungen, Geschichten und Eindrücke. Herausgekommen sind Objektarchive, Soundcollagen, alternative Stadtpläne, szenische Skizzen, Filmsequenzen, Rap-Songs ...
Aufgeregtes Durcheinander löst schließlich den Probenmoment, kurz darauf wird auch schon die Saaltür aufgestoßen – die anderen beiden Gruppen sind angekommen, Frankfurt OST ist komplett und das erste Tryout kann losgehen. Die Schule am Ried hintergeht in ihrem Film die Gesetze der Schwerkraft und lässt Protagonist:innen wundersame Sprünge vollziehen, Jacken wie von Zauberhand vom Boden zurück an den Körper fliegen und einen Hindernisparcours in rasantem Tempo rückwärts laufen. Eigentlich Alltägliches entwirft durch die simple Umkehrung der Chronologie ungekannte Dynamiken. Plötzlich wabern Sprachcollagen über die Zuschauerreihen, kurze Statements, teils akustisch verfremdet, erst später stellt sich heraus, dass hier auf Fragen wie »Was macht dich aus?« oder »Wen liebst du?« geantwortet wurde. Nur wenige Minuten dauern diese Einblicke, gerade lang genug, um von allen Teilnehmer:innen einen kurzen Eindruck zu erhaschen. Mittlerweile hat sich die Gruppe des Kinderschutzbunds ihre Bühne gesucht: Improvisierte Kurzszenen, viele davon in verschiedenen Muttersprachen wie polnisch, russisch oder amharisch, erzählen von Wünschen und Heimaten, von mehr Blumen für Frankfurt oder vom Dönerimbiss um die Ecke. Anerkennender Applaus für die mutige Rap-Einlage. In immer wieder wechselnden Standbildern teilt die Louise-von-Rothschild-Schule alltägliche Begegnungen und Emotionen. Fröhliche Ausgelassenheit wird schnell zu angestrengter Disziplin: Ortswechsel verknüpfen Gefühlswelten. Dann ein zunächst kaum vernehmbares Summen, erweitert zu einem Lied und getragen vom rhythmischen Klopfen aller formen sich die vielen Einzelgrüppchen zu einer Gemeinschaft, drei, vier Gitarrenakkorde des Mitschülers beenden das gemeinsame Ritual. »Zusammen haben wir herausgefunden, wer welche Sprache spricht. Außer Deutsch spreche ich noch Portugiesisch, das ist meine Muttersprache«, zählt der kleine Gitarrist mit den schwarzen Stoppelhaaren und der runden Brille auf: »Aber Musik gilt natürlich auch – mit Gitarrentönen kann ich was erzählen. Ob jemand traurig oder fröhlich ist zum Beispiel.« Und wie heißt du? Zwei umstehende Klassenkameraden prusten wohlwissend los: »Das ist der mit dem langen Namen, da kommen immer alle mit der Reihenfolge durcheinander – den kann er nur selbst aufschreiben.« In der Tat: »Luis Henrique Marques da Silva« steht später in meinem Notizbuch.
Die ein oder andere Frage wird die kommenden Projektwochen begleiten: Wo und wie begegnen wir uns? Welche Zukünfte wünschen wir uns? Gibt es »die anderen« eigentlich oder handelt es sich vielleicht um immer neue »Wir«-Formationen? Mit und in welchen Sprachen wollen wir von unseren Welten erzählen?
Hinein geht es durch eine schwere Holztür, beim Öffnen schlägt feucht-warme Luft entgegen, ein Dutzend Regenschirme in der Ecke hat kleine Pfützen gebildet. Aufgeregtes Gemurmel dringt aus dem schmalen Nebenraum, Künstler:innen und Produktionsleiterin stehen dicht gedrängt vor einem Tisch: Eine Gitarrensaite ist gerissen – und das eine halbe Stunde vor Beginn! Eilige Telefonate schwirren durch den Raum, eine Lösung muss her. Im großen Saal gleich nebenan bekommt von diesem Trubel niemand etwas mit, es herrscht angespannte Konzentration: Im früheren Altarraum der Kirche stehen gut zwanzig Kinder zusammen mit dem Musiker Alex im Kreis, derart beschäftigt, dass sie uns erste Eindringlinge gar nicht wahrnehmen. Für sie heißt es jetzt: Bloß schnell nochmal alles durchgehen – Wie war noch genau die Reihenfolge? Wer spricht wann? Wo stehe ich? Wie geht der Refrain? – bevor die anderen eintreffen. Alex ruft zur Konzentration, ein letztes Sich-Erinnern – schließlich geschafft, der Ablauf sitzt und die Applausordnung steht.
Alle drei Gruppen haben sich zusammen mit drei Künstler:innen aus den Bereichen Musik, Tanz und Performance auf Entdeckungsreise in ihre unmittelbaren Lebenswelten begeben. Für sie ging es in der ersten Phase des Projekts um ein neues Kennenlernen von alltäglichen Räumen, Wegen und Heimaten. Und schließlich um die Fragen: Wer sind wir? Was macht uns aus? Wie sieht unsere Lebenswirklichkeit aus? Was möchten wir erzählen? Und mit welchen künstlerischen Mitteln? Wo begegnen wir uns und wo auch nicht? Gemeinsam arbeiten sie seitdem an einer künstlerischen Übersetzung ihrer Erfahrungen, Geschichten und Eindrücke. Herausgekommen sind Objektarchive, Soundcollagen, alternative Stadtpläne, szenische Skizzen, Filmsequenzen, Rap-Songs ...
Aufgeregtes Durcheinander löst schließlich den Probenmoment, kurz darauf wird auch schon die Saaltür aufgestoßen – die anderen beiden Gruppen sind angekommen, Frankfurt OST ist komplett und das erste Tryout kann losgehen. Die Schule am Ried hintergeht in ihrem Film die Gesetze der Schwerkraft und lässt Protagonist:innen wundersame Sprünge vollziehen, Jacken wie von Zauberhand vom Boden zurück an den Körper fliegen und einen Hindernisparcours in rasantem Tempo rückwärts laufen. Eigentlich Alltägliches entwirft durch die simple Umkehrung der Chronologie ungekannte Dynamiken. Plötzlich wabern Sprachcollagen über die Zuschauerreihen, kurze Statements, teils akustisch verfremdet, erst später stellt sich heraus, dass hier auf Fragen wie »Was macht dich aus?« oder »Wen liebst du?« geantwortet wurde. Nur wenige Minuten dauern diese Einblicke, gerade lang genug, um von allen Teilnehmer:innen einen kurzen Eindruck zu erhaschen. Mittlerweile hat sich die Gruppe des Kinderschutzbunds ihre Bühne gesucht: Improvisierte Kurzszenen, viele davon in verschiedenen Muttersprachen wie polnisch, russisch oder amharisch, erzählen von Wünschen und Heimaten, von mehr Blumen für Frankfurt oder vom Dönerimbiss um die Ecke. Anerkennender Applaus für die mutige Rap-Einlage. In immer wieder wechselnden Standbildern teilt die Louise-von-Rothschild-Schule alltägliche Begegnungen und Emotionen. Fröhliche Ausgelassenheit wird schnell zu angestrengter Disziplin: Ortswechsel verknüpfen Gefühlswelten. Dann ein zunächst kaum vernehmbares Summen, erweitert zu einem Lied und getragen vom rhythmischen Klopfen aller formen sich die vielen Einzelgrüppchen zu einer Gemeinschaft, drei, vier Gitarrenakkorde des Mitschülers beenden das gemeinsame Ritual. »Zusammen haben wir herausgefunden, wer welche Sprache spricht. Außer Deutsch spreche ich noch Portugiesisch, das ist meine Muttersprache«, zählt der kleine Gitarrist mit den schwarzen Stoppelhaaren und der runden Brille auf: »Aber Musik gilt natürlich auch – mit Gitarrentönen kann ich was erzählen. Ob jemand traurig oder fröhlich ist zum Beispiel.« Und wie heißt du? Zwei umstehende Klassenkameraden prusten wohlwissend los: »Das ist der mit dem langen Namen, da kommen immer alle mit der Reihenfolge durcheinander – den kann er nur selbst aufschreiben.« In der Tat: »Luis Henrique Marques da Silva« steht später in meinem Notizbuch.
Die ein oder andere Frage wird die kommenden Projektwochen begleiten: Wo und wie begegnen wir uns? Welche Zukünfte wünschen wir uns? Gibt es »die anderen« eigentlich oder handelt es sich vielleicht um immer neue »Wir«-Formationen? Mit und in welchen Sprachen wollen wir von unseren Welten erzählen?