Wenn man diesen Vormittag unter ein Motto stellen sollte, dann vielleicht unter dieses: »Show, don’t tell«– Nicht erzählen, Zeig' es! Die Aufforderung, ohne die kein Schreibratgeber mehr auskommt, schwebt jedenfalls an diesem regnerischen Morgen über der Orangerie, in der die Schüler:innen-Gruppe der Louise-von-Rothschild-Schule heute zum letzten Mal vor der großen Generalprobe im Bockenheimer Depot zusammenkommt. 

Jede:r in der Runde hat eine Beobachtung mitgebracht: Eine Situation aus dem Alltag, von der Straße, aus der Bahn, schriftlich notiert und bereit zum Nachspielen. Heute geht es darum, das eigene Darstellungsrepertoire für die große Szene noch einmal zu erweitern. Sich Gesten, Mimik, kleine Handlungen anzueignen. Kristina wird deutlich: »Erzählen brauchen wir heute nicht – das kann ich selbst nachlesen. Zeigt mir, was ihr beobachtet habt!« Beobachtungen aus der Runde: Eine obdachlose Frau, die liest und nebenbei ihren Hund streichelt. Ein Mann im Anzug, der gehetzt telefonierend über den Platz läuft, ein Mädchen mit ängstlichem Gesichtsausdruck, zwei Freundinnen beim Selfies machen. 

Heute ist kein Schontag, obwohl später noch eine Klassenarbeit ansteht. Der Schulhausmeister, der heute ausnahmsweise mit dabei ist, feuert mit an. »Zeigt, was ihr drauf habt!« Aus dem Eindruck soll Ausdruck werden. Wenn der nicht deutlich genug heraustritt, hakt Kristina immer wieder nach: Wie war denn ihre Haltung? Wie sein Gesichtsausdruck? Show, don’t tell! 

Verbale Rücksprachen sind natürlich in Ordnung – zum Beispiel, wenn man seine Mitschüler:innen zum Nachspielen animieren muss. Da werden Anweisungen geflüstert, kleine Choreografien besprochen. Kristijan mimt einen Obdachlosen, der am Boden sitzt. Seine Stimmung hellt sich auf, als er eine Spende in die Hand gedrückt bekommt. Nicht alle Beobachtungen sind zwingend persönliche Erfahrungen. Manche aber doch: Aleyna mimt eine betrunkene Frau, der Luis in der Straßenbahn begegnete, als er mit seiner Familie unterwegs war. »Du Affe, geh‘ in dein Land zurück!«  ereifert sich Aleyna mit erhobener Hand so eindringlich, dass einige in der Runde kurz hoch schrecken. Die Hassrede, erklärt Luis, galt seiner Schwester.


Was auf einem Platz in Frankfurt in acht Minuten so passiert

Welche dieser Szenarien und Mikro-Gesten sich später im gut achtminütigen Spiel wiederfinden werden? In drei Durchgängen probt die Gruppe nun ihr Stück fürs große Try-Out am nächsten Freitag, auf zusammengesteckten Schaumstoffmatten, die in etwa den späteren Bühnenmaßen entsprechen. Aus dem Quietschen beim Drüberlaufen soll später ein lautes Trampeln, Klopfen und Stampfen werden.

Hind schnallt das Headset-Mikro um. Sie wird das Publikum durch die Aufführung leiten: Kurze Ansagen, die das Spiel strukturieren. Und die zugleich den Spielenden als Anhaltspunkt für ihre Choreografie dienen. »Auf dem Platz«. Von beiden Seiten der künftigen Bühne laufen die Schüler:innen ein. Oder, genauer: Sie gehen, laufen, humpeln, rennen, schleichen, schlurfen, hüpfen, stellen sich anderen in den Weg oder rempeln sich gegenseitig an. Einige laufen Arm in Arm über den imaginären Platz, Kristijan denkt sich Zug um Zug neue akrobatische Einlagen auf. Mal läuft er auf Händen, mal schlägt er Rad.  Hinds Stimme schickt neue Durchsagen durch den Raum: Einer zieht den Hut ab. Einer stolpert. Ein Pärchen läuft und schreibt in die Luft. Eine Frau schaut Netflix.

Nach jedem Durchgang folgt eine Runde Kritik: Vieles funktioniert bereits gut, anderes ist noch ausbaufähig. Ein bisschen mehr Abwechslung und Dynamik, bitte! Alexandar wünscht sich noch mehr Rhythmus beim Laufen. Hind nervt, das jedes Atmen im Mikro laut und deutlich übertragen wird. Das sollte sich technisch noch lösen lassen. Regina versucht, den Unterschied zwischen ‚privat‘ und ‚Bühne‘ klar zu machen: »Ihr müsst nicht alle superernst über diesen Platz laufen. Aber wenn ihr lacht, dann lacht extra!« Gar nicht so leicht, das unwillkürliche, manchmal etwas peinlich berührte Grinsen abzustellen. Oder das geradlinige Laufen.

Vor dem letzten Durchgang versucht Kristin noch einmal, zu animieren: »Jetzt nochmal energetisch 100 Prozent!« Das Tempo zieht an, die Dynamik auch. Rundum zufrieden sind die Künstler:innen noch nicht. Aber es gibt ja noch eine letzte Probe im Bockenheimer Depot. Ein letztes Mal füllt sich der Platz und leert er sich am Ende wieder. Nächstes Mal dann Bühne statt Schaumstoffboden.