Erstes Try Out West, Ripperger Halle/Hostatoschule steht in meiner Info-Mail vom Schauspiel Frankfurt. Wobei sich »Halle« allerdings schnell als mittlere Übertreibung herausstellt. Vielmehr stehe ich um halb zwei mittags in einem überraschend gut ausgestatteten Theaterraum: Licht- und Tonanlage, alles da. Und als blackbox kaum von einer regulären Probebühne im Theater zu unterscheiden – aber eben auch von ähnlicher Größe, sodass schon ein bisschen Stühlerücken notwendig wird, bis alle drei Gruppen des Schauplatzes WEST ihre Plätze auf, vor und hinter der Bühne gefunden haben. Die Beteiligten der einzelnen Schulen begegnen sich heute zum ersten Mal, haben Angefangenes und Unfertiges dabei genauso wie eine gehörige Portion Aufregung, denn es gilt, nicht – wie sonst – nur vor der eigenen Klasse mit den ersten Ideen rauszurücken, sondern dabei plötzlich in 60 fremde Gesichter zu blicken. Begrüßungen und das aufmunternde »Ihr seid heute die Gastgeber!« der Schulleitung fallen dementsprechend knapp aus, Nerven und Geduld vertragen keine allzu lange Ansprache.
Den Anfang machen die Ältesten in der Runde: Die Schüler:innen der berufsbildenden Ludwig-Ehrhard-Schule haben sich mit individuellen Zukünften, Zweifeln, Wünschen und vor allem: vielen Fragen beschäftigt. Nicht aufgeben! Immer weiter kämpfen! Bin ich >ok< so wie ich bin? Ich kann mich gut durchsetzen! Was will ich mal werden? Ich will eine Familie gründen. Ich will Rapper werden. Ich will Handys reparieren. Der eigene Weg auf die Bühne ist nicht einfach und so bleibt es heute auch erstmal bei der weißen Leinwand. Fotostrecken visualisieren Gedankenwelten, kombinieren Portraits und persönliches Statement. Kurz darauf zoomt ein Videoclip unvermittelt nach Unterliederbach, geradewegs ins Schulgebäude, zieht, verwoben mit eigens aufgenommenem Rap und Popgesang, durch rostrot geflieste Klassenzimmerflure, ein offenes Treppenhaus und blickt in nachmittagsleere Räume. Geschafft! Vier Minuten Mittelpunkt sind überstanden, erleichtertes Zurücklehnen. 

Das Projekt kann dann etwas bewirken, wenn wirklich was entsteht und Ideen eine Form bekommen. Viele der Schüler:innen beschäftigt ein tiefgreifendes >Bin ich ok?< und zusammen mit dem Künstlerteam schaffen sie es, weiterzuarbeiten, dranzubleiben. Aber klar bleibt es immer ein Wagnis, Teil des Ganzen zu sein.
Aline Becker (Lehrerin, Ludwig-Erhard-Schule Unterliederbach)

Jetzt sind die Gastgeber:innen der Hostatoschule an der Reihe: Wo kommen wir eigentlich her?, wollten sie wissen und sind dieser Frage buchstäblich nachgegangen. Probe um Probe haben sie ihre unmittelbare Umgebung in Frankfurt Höchst erkundet, haben mit Kronkorken, Kettenanhängern und Centstücken die Überbleibsel vergangener Tage aufgespürt, alles sorgfältig in kleinen Plastiktütchen verpackt, penibel mit Fundort, Datum, Uhrzeit beschriftet und so schlussendlich ein Objektarchiv angelegt, das als Inspiration für Geschichten und Standbilder diente. Was hat das kleine Schwammstück denn erlebt bevor es in die Mülltonne gewandert ist? Wem hat wohl der abgerissene vergoldete Knopf gehört? Und wer verliert eigentlich dauernd Münzen auf dem Schulhof?

Manchmal war‘s ziemlich anstrengend sich zu konzentrieren und nicht zu reden, aber am Ende war ich froh, wie gut alles in der Gruppe funktioniert hat. Heute haben wir uns geholfen, wenn jemand mal was nicht mehr wusste, so hat es dann geklappt.
Celina Strauch und Ikram Halui (Schülerinnen, Hostatoschule)

Als ich gesehen habe, dass selbst ein Schüler mit selektivem Mutismus selbstbewusst auf der Bühne stehen kann, war ich überzeugt, dass dieses Projekt was bringt.
Nilofar Rajab (Lehrerin, Hostatoschule)

Für die Kinder war es natürlich aufregend, vor den anderen, also einem Publikum, etwas zu zeigen und dabei wirklich fokussiert zu bleiben. Auch diese Form von Abstraktion im Vorfeld war nicht ganz leicht: eigene Erfahrungen in die Sprachen der Kunst zu übersetzen. Für uns ist es aber auch eine wertvolle Erfahrung, weil wir in Künstlerteams aus ganz unterschiedlichen Sparten zusammenarbeiten.
Kristin Lohmann und Florence Ruckstuhl (Künstlerinnen Team WEST)

Mit ihrem Programm Führen und Folgen hat sich die Walter-Kolb-Schule ein Dickicht an Wegen, Pfaden und Straßen erschlossen: angefangen in der Schule über den Weg zum Probenort im Jugendkulturzentrum bis hin zu persönlichen Orten, die stets mit markanten Erlebnisse verbunden sind. Entstanden sind alternative Stadtpläne, neu dimensioniert und auf quadratmetergroßen Packpapierflächen entworfen. Entfernungen verlieren sich, werden hin- und hergeschoben und wenn die Karte zu klein wird, klebt einfach jemand das nächste Blatt an. Von städteplanerischer Ökonomie zeugt dabei nichts mehr, dafür rücken Nachbarschaften zusammen, schmilzt die Distanz zur Freundin und beansprucht der Spielplatz im Innenhof mit übergroßer Textmarkerstärke seinen Raum. Adam, Noel, Selina … allesamt wissen sie ihre Geschichten zu erzählen: von der einzigen Birke im Hof, der verletzten Nase beim Fußballspielen. Der alte Fernseher kommt zu Wort, berichtet von letzten Flackerbildern auf der Mattscheibe, bevor er endgültig zum Sperrmüll an den Straßenrand gewandert ist. Die leere Flasche erinnert sich an ihren Weg vom Supermarktregal bis zum Kellereingang. Unter all den Packpapier-Plänen erstrecken sich grellbunte Liniennetze: gelb, orange und grün leuchten die feinen Markierungen, zeigen Verbindungen an und werden zum Hindernisparcours, der nur mit Hilfe der anderen bewältigt werden kann. Nachgespräch und mittlerweile traditionelles Pizza-Essen in großer Runde beschließen den Nachmittag – Anfang und Kennenlernen sind gemacht, bis zum nächsten Try Out!

Ja, heute auf der Bühne war‘s gut. Viel besser als am Anfang – da war ich erschrocken, alle waren unsicher und es war gar nicht cool.
Anas El-Fannoua (Schüler, Walter-Kolb-Schule)

Jeder hat hier mehr Platz für Gestaltung und Entfaltung, kann seine eigenen Stärken, aber auch Schwächen zeigen. Mich freut vor allem das Verhältnis zum Künstlerteam – die Kinder arbeiten mit ihnen in gegenseitigem Respekt und viel unbeschwerter, weil es eben keine Noten gibt und es nicht um Leistung geht.
Verena Kreutz (Lehrerin, Walter Kolb Schule)